Das „Imperium Russland“

Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts ist ein Siegeszug des Modells „Nationalstaat“, gebaut auf den Scherben der großen europäischen Imperien. Doch wie sieht es mit heutigen Großmächten aus. Sind die USA, Russland oder China eine gänzlich neue Form von Imperien? Oder streben letztere viel mehr wieder nach „alter imperialer Größe“?

In seinem Artikel „Großmachtlos“ geht der Konstanzer Osteuropa-Historiker Jürgen Osterhammel dem Niedergang europäischer imperialer Konstrukte vergleichend nach, um mit Bezug auf das heutige Russland  zu schließen:

Nicht zufällig ist eine hysterisch beschworene „Größe“ zum Leitwert der [russischen] Politik geworden. Eine vielfache Degradierung solchen Ausmaßes auf der Skala der internationalen Hierarchie war mit keinem anderen Dekolonisationsprozess des 20. Jahrhunderts verbunden. Auffangstrukturen wurden in den entscheidenden Neunzigerjahren nicht geschaffen. Die „Sieger im Kalten Krieg“ feierten sich zu laut.

Jürgen Osterhammel, „Großmachtlos“ am 07.12.2016 in der Süddeutschen Zeitung

In seiner Replik „Sonder-Wegelagerer“ , die ein Monat später bei derselben Zeitung erschien, antwortet der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel konkret auf diesen Satz Osterhammels und widerspricht vehement:

Die Gegenargumente liegen auf der Hand: Keine andere Großmacht konnte sich nach dem Zerfall ihres Herrschaftsbereichs der fortdauernden Achtung durch andere Mächte so sicher sein wie Russland mit seinem Atomwaffenarsenal und seinem Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die Nato hat kooperative Strukturen mit Russland aufgebaut, US-Truppen wurden aus Europa abgezogen.

Martin Schulze Wessel, „Sonder-Wegelagerer“ am 16.01.2016 in der Süddeutschen Zeitung

Lesenswert macht Schulze Wessels Beitrag besonders auch die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von „Nationalstaat“ und „Imperium“. Er erkennt sie als Idealtypen, die für das imperiale Russland nicht als strenge Dichotomien gesehen werden dürfen:

Anders als die westlichen Kolonialreiche war das imperiale Zentrum in Russland nicht durch Ozeane von den imperialen Peripherien getrennt. Wo das Kernland endete und wo die koloniale Peripherie begann, war nicht einfach zu bestimmen und unterlag dem historischen Wandel.

Martin Schulze Wessel, „Sonder-Wegelagerer“ am 16.01.2017 in der Süddeutschen Zeitung

So entwickelten sich ab den 1840er Jahren sowohl das russische wie auch das ukrainische Nationsprojekte innerhalb des von Russland beherrschten Imperiums. Die Gleichzeitigkeit von Nationalisierung und Kolonialisierung des Zarenreiches ist nach Schulze Wessel während der Sowjetunion „eher überdeckt als gelöst“ worden und „erklärt die Probleme der russischen Politik und Öffentlichkeit heute“:

Das postsowjetische Russland hat sich ebenso leicht wie die einstigen westeuropäischen Imperien von seinen als kolonial betrachteten Besitzungen etwa in Zentralasien getrennt. Es bleibt für Russland schwierig, die Eigenstaatlichkeit und territoriale Integrität der Ukraine zu akzeptieren. Doch ist dies kein postkoloniales Erbe, sondern ein Problem der nationalen Selbstfindung Russlands.

Martin Schulze Wessel, „Sonder-Wegelagerer“ am 16.01.2017 in der Süddeutschen Zeitung

Der historische Rückblick auf den russischen Nationalismus und das russländische Imperium bringt eine spannende Perspektive nicht nur für den Ukraine-Konflikt, sondern ganz allgemein für das Selbstverständnis Russlands unter Putin:

Seit Russland die Krim annektiert hat, im Donbass Krieg gegen die Ukraine führt und auch im Westen eine kaum verhüllte Einflusspolitik betreibt, stellt sich die Frage nach den Herrschaftsformen des Imperiums nicht nur nostalgisch.

Martin Schulze Wessel, „Sonder-Wegelagerer“ am 16.01.2017 in der Süddeutschen Zeitung

Die beiden kurz vorgestellten Artikel sind treffliche Beispiele dafür, wie eine historische Perspektive den kritischen Blick auf aktuelles Tagesgeschehen schärft, oder gar erst möglich macht. Eine spannende Lektüre!