Den Konflikt erzählen

Wie beeinflusst der Krieg in der Ostukraine das Leben der Menschen, die dort leben? Wie kann man ihnen eine Stimme verleihen und ihre Geschichten weitererzählen? Mit diesen Fragen setzten sich Mitglieder von Libereco – Partnership for Human Rights e.V. auseinander. Unter der Leitung von Imke Hansen und der Koordination von Anne Reis entstand eine Graphic Novel über den Konflikt im Donbas, die auf neun biographischen Interviews basiert. Hierfür hatten sich Vorfeld zehn ukrainische VertreterInnen zivilgesellschaftlicher Organisationen und zwei ukrainische KünstlerInnen im Rahmen von mehreren Workshops getroffen und gemeinsam darüber diskutiert, was genau Oral History ist und wie man aus Interviews Erzählungen gestalten kann. Das Ergebnis liegt seit Oktober 2017 in gedruckter Form in ukrainischer und russischer Sprache vor. Die Stärke der einzelnen Geschichten sei vor allem ihre Authentizität, erklärte Imke Hansen im Zuge eines Workshops: „Wir denken uns nichts aus, wir bestimmen keine Themen. Wir verarbeiten das, was Menschen uns erzählt haben, die mit dem Krieg in Berührung gekommen sind. Wir haben auch nicht versucht, besonders dramatische Schicksale auszuwählen.“

Die Graphic Novel wurde mit dem Gedanken entwickelt, Menschen innerhalb und außerhalb der Ukraine für die Folgen des Krieges im Land zu sensibilisieren. Ende Oktober 2017 veranstaltete das East-Ukrainian Center for Civic Initiatives in Kiew eine Präsentation der Graphic Novel mit Podiumsdiskussion. Am 7. Dezember 2017 wird das Projekt in der Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung in Berlin vorgestellt. Eine größere Präsentation ist zudem für Ende Januar in München geplant. Des Weiteren ist eine Übersetzung ins Deutsche und Englische vorgesehen. In Workshops für MultiplikatorInnen sollen zudem Konzepte erarbeitet und vermittelt werden, um die Graphic Novel in der Bildungsarbeit nutzen zu können.

Neben Libereco – Partnership for Human Rights e.V. sind auch das East-Ukrainian Center for Civic Initiatives und die Coalition „Justice for peace in Donbas“ an dem Projekt beteiligt. Es wird vom Auswärtigen Amt finanziert und durch das Ukraine-Calling-Programm, das ein gemeinsames Projekt der Europa-Universität Viadrina, der Robert Bosch Stiftung und der Deutschen Assoziation der Ukrainisten e.V. ist, begleitet.

Text: Kristina Großehabig

„Orbáns Ethnisierung des Bildungswesens“

Orbáns Ethnisierung des Bildungswesens – unter diesem Titel nimmt Prof. Martin Schulze Wessel der Ludwig-Maximilians-Universität München in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Stellung zur Änderung des ungarischen Hochschulgesetzes und schreibt:

Die Central European University in Budapest gehört zu den erfolgreichsten in Europa. Jetzt will die Regierung von Viktor Orbán diesem Leuchtturm das Licht ausknipsen.

Dass es mit der Gesetzesänderung mitnichten „nur um eine neue Regulierung im Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Universitäten geht“ arbeitet Schulze Wessel präzise heraus und findet klare Worte: „Es geht um blanken Hass“.

Auf die Bedeutung der CEU, die weit über ihre Leistung als hochangesehene Universität hinausgeht, hat auch der mit Ungarn vertraute Nachwuchshistoriker Max Trecker hingewiesen. Prof. Schulze Wessel bekräftigt diese Sicht und führt aus:

Hier saßen auch in den neunziger Jahren während der postjugoslawischen Kriege serbische, kroatische und bosnische Studenten in einem Seminarraum zusammen, hier diskutieren heute auch nach Russlands Annexion der Krim noch ukrainische und russische Studenten miteinander

Die drohende Schließung der CEU hat das Potential zu einer „Blaupause für Nationalisten in den Nachbarstaaten“ zu werden, ein „Dammbruch, der die Bildungslandschaft in ganz Ostmitteleuropa verändern wird“.

Die Ethnisierung des Bildungswesens ist aus der Sicht der Fidesz-Partei und der Nationalisten in Ungarns Nachbarstaaten die notwendige Vollendung ihrer populistisch-autoritären Regierungsweise

Und damit wird aus der ungarischen Hochschulgesetzgebung eine Gefahr für das demokratische Klima nicht nur Mitteleuropas, sondern der gesamten europäischen Gemeinschaft. Höchste Zeit also, dass die Vorgänge in Budapest auch ausserhalb der wissenschaftlichen Gemeinde die Aufmerksamkeit erfahren, die sie verdienen.

 

Nachtrag: Prof. Schulze Wessel spricht auch in einem Interview auf 3sat  über die Schließung der CEU in Budapest.

Das „Imperium Russland“

Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts ist ein Siegeszug des Modells „Nationalstaat“, gebaut auf den Scherben der großen europäischen Imperien. Doch wie sieht es mit heutigen Großmächten aus. Sind die USA, Russland oder China eine gänzlich neue Form von Imperien? Oder streben letztere viel mehr wieder nach „alter imperialer Größe“?

In seinem Artikel „Großmachtlos“ geht der Konstanzer Osteuropa-Historiker Jürgen Osterhammel dem Niedergang europäischer imperialer Konstrukte vergleichend nach, um mit Bezug auf das heutige Russland  zu schließen:

Nicht zufällig ist eine hysterisch beschworene „Größe“ zum Leitwert der [russischen] Politik geworden. Eine vielfache Degradierung solchen Ausmaßes auf der Skala der internationalen Hierarchie war mit keinem anderen Dekolonisationsprozess des 20. Jahrhunderts verbunden. Auffangstrukturen wurden in den entscheidenden Neunzigerjahren nicht geschaffen. Die „Sieger im Kalten Krieg“ feierten sich zu laut.

Jürgen Osterhammel, „Großmachtlos“ am 07.12.2016 in der Süddeutschen Zeitung

In seiner Replik „Sonder-Wegelagerer“ , die ein Monat später bei derselben Zeitung erschien, antwortet der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel konkret auf diesen Satz Osterhammels und widerspricht vehement:

Die Gegenargumente liegen auf der Hand: Keine andere Großmacht konnte sich nach dem Zerfall ihres Herrschaftsbereichs der fortdauernden Achtung durch andere Mächte so sicher sein wie Russland mit seinem Atomwaffenarsenal und seinem Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die Nato hat kooperative Strukturen mit Russland aufgebaut, US-Truppen wurden aus Europa abgezogen.

Martin Schulze Wessel, „Sonder-Wegelagerer“ am 16.01.2016 in der Süddeutschen Zeitung

Lesenswert macht Schulze Wessels Beitrag besonders auch die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von „Nationalstaat“ und „Imperium“. Er erkennt sie als Idealtypen, die für das imperiale Russland nicht als strenge Dichotomien gesehen werden dürfen:

Anders als die westlichen Kolonialreiche war das imperiale Zentrum in Russland nicht durch Ozeane von den imperialen Peripherien getrennt. Wo das Kernland endete und wo die koloniale Peripherie begann, war nicht einfach zu bestimmen und unterlag dem historischen Wandel.

Martin Schulze Wessel, „Sonder-Wegelagerer“ am 16.01.2017 in der Süddeutschen Zeitung

So entwickelten sich ab den 1840er Jahren sowohl das russische wie auch das ukrainische Nationsprojekte innerhalb des von Russland beherrschten Imperiums. Die Gleichzeitigkeit von Nationalisierung und Kolonialisierung des Zarenreiches ist nach Schulze Wessel während der Sowjetunion „eher überdeckt als gelöst“ worden und „erklärt die Probleme der russischen Politik und Öffentlichkeit heute“:

Das postsowjetische Russland hat sich ebenso leicht wie die einstigen westeuropäischen Imperien von seinen als kolonial betrachteten Besitzungen etwa in Zentralasien getrennt. Es bleibt für Russland schwierig, die Eigenstaatlichkeit und territoriale Integrität der Ukraine zu akzeptieren. Doch ist dies kein postkoloniales Erbe, sondern ein Problem der nationalen Selbstfindung Russlands.

Martin Schulze Wessel, „Sonder-Wegelagerer“ am 16.01.2017 in der Süddeutschen Zeitung

Der historische Rückblick auf den russischen Nationalismus und das russländische Imperium bringt eine spannende Perspektive nicht nur für den Ukraine-Konflikt, sondern ganz allgemein für das Selbstverständnis Russlands unter Putin:

Seit Russland die Krim annektiert hat, im Donbass Krieg gegen die Ukraine führt und auch im Westen eine kaum verhüllte Einflusspolitik betreibt, stellt sich die Frage nach den Herrschaftsformen des Imperiums nicht nur nostalgisch.

Martin Schulze Wessel, „Sonder-Wegelagerer“ am 16.01.2017 in der Süddeutschen Zeitung

Die beiden kurz vorgestellten Artikel sind treffliche Beispiele dafür, wie eine historische Perspektive den kritischen Blick auf aktuelles Tagesgeschehen schärft, oder gar erst möglich macht. Eine spannende Lektüre!