Die Russische Föderation hat die Ukraine, ihr Nachbarland, in einem brutalen und andauernden Angriffskrieg überfallen. Die bundesrepublikanische Politik reagierte auf diese Zäsur mit einer 180-Grad-Wende: Die bisher vorherrschende Naivität gegenüber Russland gehört nun der Vergangenheit an. Den Richtungswechsel kündigte der Kanzler in einer Regierungserklärung am fünften Tag des russischen Überfalls an. Scholz‘ Ausspruch, dieser Krieg sei Putins Krieg, wird in seiner Prägnanz vielen BundesbürgerInnen im Gedächtnis bleiben.
Die Kernaussage dieser Feststellung ist zum einen, dass die Ukraine absolut keine Schuld am Ausbruch der Gewalt trägt. Zum andern nimmt die Position des Kanzlers die russische Bevölkerung aus der Verantwortung. Scholz bekräftigte die Position, dass „Putin, nicht das russische Volk […] sich für den Krieg entschieden“ hat. Auch Wolfgang Kubicki [FDP], der Vizepräsident des Parlaments behauptete, dass „eben nicht das russische Volk“ Krieg mit der Ukraine führe.
Doch welche Haltungen nehmen die Russinnen und Russen gegenüber Putins Krieg ein? Umfragen lassen vermuten, dass die russische Bevölkerung den Krieg keineswegs geschlossen ablehnt. Agiert der russische Präsident tatsächlich ohne die Unterstützung der Bevölkerung?
Eines ist sicher: Einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, wie bei der Annexion der Krim 2014, als Putins Beliebtheit in Umfragen Höchstwerte erreichte, gibt es nicht. Dies heißt jedoch nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Krieg ist. In den Letzten Jahren sah ein Großteil der Bevölkerung die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine eindeutig beim Westen. Die Anerkennung der sogenannten „Volksrepubliken“ DNR und LNR in der Ostukraine wurde in Umfragen des unabhängigen Levada Instituts von etwa 40 Prozent der Befragten abgelehnt, während ungefähr 45 Prozent der UmfrageteilnehmerInnen den ersten Schritt in den offenen Angriffskrieg guthießen.
Das entscheidende Kriterium für die Haltung der Russinnen und Russen gegenüber dem Angriff auf die Ukraine ist das „Framing“ der militärischen Gewalt. Wird in Umfragen darauf hingewiesen, dass die Separatisten um Hilfe gegen die ukrainische Aggression baten, steigt die Zustimmung für ein militärisches Engagement bis auf 70 Prozent. Der Narrativ, man müsse die russischsprachige Bevölkerung gegen Feinde von außen schützen, ist der Kern der Rechtfertigungsstrategie des Kremls. Viele Russinnen und Russen konsumieren hauptsächlich staatliche und staatsnahe Medien. Die russischen Streitkräfte werden dort konsequent als Befreier ihrer von Faschisten und Nationalisten unterdrückten Landsleute dargestellt.
Aus der deutschen Perspektive mag dieses Argument bizarr anmuten, doch in Russland klingt es an. Im vom Kreml gesteuerte medialen Kosmos wird seit 2014 die Erzählung entwickelt, dass Rechtsradikale in der ukrainischen Armee und Regierung Verbrechen gegen die große russischsprachige Minderheit in der Ukraine planen, im Internet und in privaten Chats kursieren zahlreiche angebliche Beweise für diese Behauptung.
Für die russische Regierung wäre es unmöglich, die ukrainische Nation an sich zu Feinden zu erklären, zu eng sind dafür die kulturellen, sprachlichen und familiären Verbindungen zwischen Russland und der Ukraine. Deshalb wird der Krieg als militärische Operation beschrieben, die bedrängte Russen vor der fanatischen Regierung in Kiew retten soll. Diese Erzählung soll auch Erinnerungen an ein zentrales Motiv der nationalen Identität, den siegreichen Kampf der Sowjetunion gegen das Dritte Reich, erwecken.
Ein Blick in russische soziale Netzwerke zeigt, dass die „humanitäre“ Argumentation eine große Wirkung entfaltet. Wo immer sich im russischsprachigen Internet Menschen gegen den Krieg aussprechen, finden sich auch relativierende Kommentare. Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit, was auch ein Hinweis auf den Einsatz von Bots sein kann, greifen diese Rechtfertigungen des Überfalls auf die Ukraine dabei auf eine zynische Rhetorik zurück: Den Kriegsgegnern wird Doppelmoral unterstellt. Während sie acht Jahre lang die angebliche Gewalt gegen ethnische RussInnen in der Ukraine ignoriert hätten, so lautet der Vorwurf, seien sie nun nur deshalb gegen den Krieg, da sie aufgrund der Sanktionen keine westlichen Luxuswaren mehr erwerben können.
Für den Kreml ist es von elementarer Bedeutung, die eigenen Anhänger vor der Realität des eskalierenden Krieges in der Ukraine abzuschirmen. Niemand soll erfahren, dass es in der Ukraine gar keine humanitäre Operation gibt. Wer den Überfall als Krieg, Invasion oder Angriff bezeichnet, kann mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die letzten unabhängigen Medien, wie beispielsweise die Novaya Gaseta zensiert werden. Der Privatsender Doschd wurde verboten und dem letzten freien Radiosender Echo Moskwy wurde die Sendeerlaubnis entzogen. Die Journalisten von Echo Moskwy hatten eine rote Linie überschritten, als sie ukrainischen Experten die Möglichkeit boten, über die Gräuel des Krieges zu sprechen. Fortgeschrittene Analyse- und Überwachungssysteme erlauben es der russischen Regierung zudem, gezielt unliebsame Inhalte in den noch frei zugänglichen sozialen Netzwerken zu identifizieren und zu sperren, oder Teile des Internets abzuschalten oder zu verlangsamen.
Für die weitere Entwicklung in Russland ist es entscheidend, ob die Bevölkerung die Wahrheit über den Krieg erfährt. Bilder der Körper der gefallenen Soldaten, der Tränen der trauernden Mütter und der brennenden Wohnblöcke könnten Putins Illusion zertrümmern. Von der Frage, inwiefern die Regierung ihre momentane Deutungshoheit behaupten kann, hängt es ab, ob sich der Protest gegen den Krieg zu einer ernsthaften Gefahr für Putins Machtmonopol entwickeln kann oder nicht.
Die Bundesregierung und ihre Verbündeten sollten sich nicht einfach darauf verlassen, dass das russische Volk sich von selbst gegen den Krieg positioniert. Die Russinnen und Russen werden von ihrer Regierung belogen. Je mehr Söhne, Väter und Onkel im illegitimenAngriffskrieg fallen, desto offensichtlicher wird diese Lüge. Doch darauf sollte der Westen nicht warten. Eine „neue Ostpolitik“ sollte nicht nur die militärischen Kapazitäten zur Abschreckung erhöhen, sondern muss auch die Informationspolitik weiterentwickeln. Neben der Spaltung der russischen Eliten durch die Sanktionen, ist öffentlicher Protest in Russland der plausibelste Weg zur Beendigung der Kämpfe. Der Westen sollte an die Tradition des Radiosenders Radio Liberty, der während des Kalten Krieges in der Sowjetunion sendete, anknüpfen.
Die Hauptaufgabe der neuen Informationspolitik sollte es sein, die Realität des Krieges sichtbar zu machen. Die ukrainische Regierung wendet sich direkt an die russischen Mütter gefallener und gefangengenommener Soldaten. Diese Initiative gibt die Stoßrichtung für eine neue Informationspolitik vor. Eine zweite Argumentationslinie sollte betonen, dass die Ukrainer sich geschlossen gegen die Invasion wehren, und dass die russischsprachige Bevölkerung die Okkupatoren genauso bekämpft, wie ihre ukrainischsprachigen Landsmänner- und Frauen. Die mehrheitlich russischsprachige Millionenstadt Charkiw leistet seit Wochen erbitterten Widerstand, das Leid der Zivilbevölkerung dort ist unvorstellbar.
Schlussendlich ist es zentral, zu vermitteln, dass weder die ukrainische noch die deutsche Regierung die russische Bevölkerung für den Krieg verantwortlich macht. Scholz sollte seine Rede über Putins Krieg auch an ein Publikum in Russland richten. Die Bundesregierung sollte möglichst schnell damit beginnen, erhebliche Mittel in die Entwicklung und Implementierung einer neuen kommunikativen Strategie zu investieren, die an die medialen und politischen Rahmenbedingungen des derzeitigen Konfliktes angepasst ist.